Jean-Noel Kapferer: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig, 1996, 360 S., 39,90 Mark
Leipziger Volkszeitung, 2.5.1996
Gerüchte gedeihen prächtig nicht nur beim Kaffeeklatsch. Jean-Noel schreibt über das älteste Massenmedium der Welt. "Das Glasdach der neuen Messe sei bei Sturm einsturzgefährdet, berichtet ein Bauingenieur." "Das Leipziger Ordnungsamt ist am Gewinn des Eroscenter beteiligt, hat eine Prostituierte einem Journalisten verraten." "Der kürzliche Brandanschlag auf den Erotikshop soll ein abgekartetes Spiel zwischen dem Besitzer und der Feuerwehr gewesen sein, ist aus Polizeikreisen durchgesickert." Folgt man einer Untersuchung über das weltälteste Massenmedium, hätten diese aus der Luft gegriffene Gerüchte gute Chancen, rasch verbreitet zu werden. Denn: Das Gerücht ist eine Information mit Nachrichtenwerk, der besondere Glaubwürdigkeit zukommt, gerade weil sie von offiziellen Quellen nicht bestätigt oder gar dementiert wird. Jean-Noel Kapferer, Leiter einer französischen "Stiftung zur Erforschung von Gerüchten", kann belegen, daß so gut wie jedes Gerücht seinen Markt findet. Es ist ein Irrtum, da es nur beim Kaffeekränzchen oder in der Kantine vom Ohr in den Mund und von dort in weitere Ohren findet. Da Gerüchte einen wesentlichen Teil der öffentlichen Meinung bilden, lassen sie sich hervorragend zur Manipulation verwenden. Mit ihrer Hilfe wurden Wahlen gewonnen und Aktienkurse zum Stürzen gebracht. Sie lassen sich als Versuchsballon einsetzen wie zur Erpressung bisher geheimgehaltener Information. Daß es dabei freilich immer auf die richtige "Neuigkeit", den passenden Zeitpunkt und geeigneten Ansprechpartner ankommt, wissen am besten PR-Agenturen, die auf die Verbreitung wirkungsvoller Gerüchte spezialisiert sind. Als "unbestätigte Nachricht" hat das Gerücht wichtige Vorzüge. Es bringt Themen in die Öffentlichkeit, deren offizielle Behandlung unmöglich wäre. Obwohl niemand etwas gesehen hat, sprechen alle davon: Das Gerücht ist ein anonymer Brief, den man ungestraft schreiben kann. Mit ihm lassen sich Nachrichten vermitteln, die konkret genug, doch nie allzu konkret sind. Zwischen Information und Quelle steht dabei immer jemand der gute Bekannte, der absolut glaubwürdige Zeuge, dessen Zuverlässigkeit freilich noch niemand kontrolliert hat. Besonders rätselhaft erscheint die ewige Wiederkunft wirklich großer Gerüchte. Die Geschichte vom potenzschwächenden Pülverchen im Kasernenessen zum Beispiel. Vor zwei Jahren in Australien kreiert, kursieren sie dann in Europa und irgendwann in Amerika... Bestimmte Gerüchte bleiben über enorme Distanzen wortgetreu erhalten, während andere schon nach der dritten Station nicht wiederzuerkennen sind. Zu dem Material für seine gleichermaßen amüsante wie aufschlußreiche Studie kam Kapferer durch Befragungen und einen eigens eingerichteten Telefondienst. Im Unterschied zu anderen Spezialisten kam er dabei zu der Auffassung, daß Gerüchten mit der Unterscheidung "wahr" und "falsch" nicht beizukommen sei. Bleibt die Frage, warum wir sie allzu schnell als wahr betrachten. Da Gerüchte stets "im Bündel" weitergetragen werden, sind sie ein Medium kollektiver Erörterung. Sie schaffen Realitäten, die eingebürgerten Wahrnehmungsweisen entsprechen und zusammenhängenden Details Sinn geben. Ihre Überzeugungskraft beziehen sie aus Ängsten und verborgenen Wünschen. Da der Mensch an nichts mehr glaubt, glaubt er letztlich an alles. Der Erfolg beruht auf einem sozialen Bedürfnis: jemanden zu vertrauen. Weil der menschliche Blick vorgeprägt ist und selektiv funktioniert, sehen wir, was wir sehen wollen. Daß die Wahrheit eine Erfindung der Konvention sei, hat Nietzsche schon vor mehr als 120 Jahren festgestellt. Der Mensch lebe von Illusionen, so N., von denen er vergessen habe, daß sie welche sind. Neu ist jetzt, daß derartige Einsichten gegenüber einem Medium eingebracht werden, daß lange überhaupt nicht ernst genommen wurde. Das wiederum hat Bedeutung für jedermann nicht nur für Marketingstrategen. Seit einiger Zeit kursieren Gerüchte über die "Gerüchte". Das so benannte Buch sei das Flaggschiff des neuen Kiepenheuer-Programms. Nach den Bestellzahlen zu urteilen, schon jetzt ein Bestseller: Zu Werbezwecken verwendet, zeigen Gerüchte einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Vorteil: Sie kosten nichts. Kein Gerücht, sondern bestätigte Tatsache ist, daß die besagten "Gerüchte" bereits im gesamten romanischen Sprachraum, den USA und Lateinamerika ihre Leser gefunden haben. Längst wurden sie ins Japanische, Türkische und Schwedische, ins Tschechische, Rumänische und Bulgarische übersetzt. Als Professor für Wirtschaftswissenschaften scheint Jean-Noel Kapferer, der schon anderes über moderne Mythen und Medien veröffentlicht hat, nicht gerade zum Bestsellerautor prädestiniert. Sein Buch aber ist spannend wie ein Krimi, unterhaltsam wie ein Magazin. Und nützlich wie ein Ratgeber. Andreas Herzog |