Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit.
Herausgegeben im Auftrag
des Leo Baeck Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung
von Michael Brenner. München: C.H. Beck, 1997, Bd. III u.
IV.
In: Leipziger Volkszeitung, 19.3.98, Sb. 28.
Zwischen Emanzipation, Anpassung
und Genozid
Komplettiertes Jahrhundertwerk erzählt die "Deutsch-jüdische
Geschichte der Neuzeit" von 1600 bis 1945
Holocaust und Antisemitismus
prägten verständlicherweise nach '45 die Beschäftigung
mit den europäischen Juden. Für eine Darstellung, die
die Juden nicht nur als Objekte der Ausgrenzung sah, waren langwierige
wissenschaftliche Vorarbeiten nötig.
Die gab das Leo-Baeck-Institut
in Auftrag, das eine umfassende Historie der deutschen Juden
schon vor 40 Jahren zum Ziel erklärte. Und nun wurde mit
den Bänden III und IV, die sich der Zeit zwischen Reichsgründung
und dem Untergang des Nazireiches widmen, jene "Deutschjüdische
Geschichte in der Neuzeit" komplettiert, deren erste zwei
Bände vor anderthalb Jahren erschienen.
Die Verfasser, namhafte Historiker
aus Israel, den USA, England und Deutschland, stellen das Leben
der deutschsprachigen Juden sowohl aus der Perspektive des jüdischen
Volkes als auch aus der Deutschlands dar. Den Genozid am Ende
verlieren sie dabei nie aus den Augen.
Dabei präsentiert Peter
Pulzer die deutschjüdische Geschichte zwischen rechtlicher
Emanzipation und antisemitischer Ausgrenzung. Monika Richarz
bietet eine differenzierte Beschreibung beruflicher und sozialer
Strukturen. Dem religiösen Leben wie dem Selbstverständnis
der deutschen Staatsbürger mosaischer Konfession sowie der
Zionisten widmet sich Steven M. Lowenstein. Den herausragenden
Anteil am deutschen Kultur- und Geistesleben bilanziert Paul
Mendes-Flohr. Die politische Geschichte der Entwicklung vom Ersten
Weltkrieg bis zum Holocaust hat Avraham Barkai beschrieben.
Dabei wird herausgearbeitet,
daß die Juden seit ihrer Integration eine
mit den Deutschen gemeinsame Geschichte hatten. Als deutsche Staatsbürger
jüdischer Herkunft lebten sie im Spannungsfeld von jüdischer
Tradition und Anpassung an die deutsche Kultur. Als Juden und
Deutsche nahmen sie unterschiedliche Haltungen ein, die jedoch
dem allgemeinen Wandel der Zeit unterworfen blieben. Wie keine andere
Bevölkerungsgruppe nutzten sie die Chancen der Modernisierung:
Schon in der Kaiserzeit waren sie nachweislich mehr "bürgerlich"
und besser gebildet als ihre nichtjüdischen Mitbürger.
Als Großstädter, die sich im Handel, den freien Berufen
und im geistigkulturellen Leben etablierten, wurden sie jedoch von den
Ressentiments deklassierter Kleinbürger getroffen.
Unter dem Einfluß des wiederauflebenden
Antisemitismus seit 1890 bekannten sich viele Juden zu ihrer besonderen
Herkunft und Kultur. Dennoch zogen sie als Patrioten begeistert
für ihr Vaterland in den Ersten Weltkrieg. In der Weimarer
Republik zählten sie zu den Trägern eines politischen
Systems, das von Antiliberalen und Nationalkonservativen bekämpft
wurde. Nicht zufällig waren diese auch Antisemiten, die gegen den "jüdischen
Einfluß" mobil machten. Der
Versuch eines jüdischchristlichen Dialogs scheiterte am
Desinteresse einer Gesellschaft, die die Juden nicht als gleichberechtigt
akzeptieren wollte.
In verständlicher Form stellen
die Bände nicht nur die aufschlußreiche Wirtschafts- und
Sozialgeschichte der deutschen Juden dar. Sie geben auch Einblicke
in ihre Religions-, Geistes- und Kulturgeschichte in der Epoche zwischen
1871 und 1945. Die Besonderheiten der jüdischen Minderheit
werden weniger auf spezifische Traditionen, als auf sozialhistorische
Hintergründe zurückgeführt. So wird manches
Stereotyp widerlegt.
Damit dieses Jahrhundertwerk
möglichst viele deutsche Leser erreicht, ist das baldige
Erscheinen einer preisgünstigen Paperbackausgabe zu wünschen.
Andreas Herzog |