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Almut Todorow: Das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" in der Weimarer Republik.
Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen: Max Niemeyer, 1996

In: Leipziger Jahrbuch für Buchgeschichte 7 (1997), S. 415-418.

Daß das Zeitungsfeuilleton schon lange ein eigenständiges literarisches Massenmedium zur Meinungsbildung ist, wird heute niemand mehr bezweifeln. Um so bemerkenswerter ist, daß Publizistik, Literaturwissenschaft und Rhetorik seine systematische Erforschung bis vor kurzem vernachlässigt haben. In einer exemplarischen Untersuchung des Feuilletons der Frankfurter Zeitung wird seine eigenständige literarisch-kommunikative Rolle erstmals genauer beleuchtet. Durch die Wahl gerade dieses Gegenstands verspricht die Studie aber auch zur Erhellung der Pressegeschichte der Weimarer Republik und ihres kulturellen und politischen Wandels beizutragen.

Als Organ von Liberalismus und Demokratie war die Frankfurter Zeitung eng mit der Geschichte der ersten deutschen Republik verbunden. Neben dem Politik- und Wirtschaftsteil spielte das Feuilleton, das auf der ersten Seite "unter dem Strich" begann, eine herausragende Rolle. Es bot Aufklärung über die Gesellschaft und Kommentare zur Zeit, darüber hinaus aber auch vielfältige populärwissenschaftliche und kulturelle Informationen. Sein intellektuelles Profil erhielt es durch Redakteure wie Rudolf Geck, Siegfried Kracauer, Benno Reifenberg oder Bernhard Diebold. Auch durch Autoren wie Walter Benjamin, Ernst Bloch und Joseph Roth begründete es seinen bis heute legendären Ruf.

Wie die klangvollen Namen profilierter Schriftsteller einsichtig machen, kann das Feuilleton nicht nur als Nachrichtenmedium verstanden werden. Als eigenständige publizistische Instanz, die sich ihre Bedingungen zum größten Teil selbst setzt, hat es sich während des 19. Jahrhunderts im institutionellen Gefüge der Zeitung etabliert. Seine Redaktion bilde eine eigenständige "Rednerinstanz" (S. 88), belegt Almut Todorow in der vorliegenden Arbeit. Es verfüge über fortlaufende Organisations- und Präsentationsformen, zu denen "Ordnungsraster" wie Rubriken, die Kommunikation strukturierende, wiederkehrende Themen sowie eigene Textgattungen gezählt werden können. Das Feuilleton ist deshalb nicht nur eine Darstellungsform" aktueller Information, wie in einem kürzlich erschienenen Publizistik-Lexikon zu lesen ist, sondern ein komplexes "Textkontinuum": "Das Feuilleton begegnet nicht als einzelner Text, es tritt immer in einer Konstellation von Texten auf, nebeneinandergeordnet in der einzelnen Zeitungsnummer, nacheinandergeordnet in der Abfolge der Zeitungsnummer." (S. 48)

Im interdisziplinären Schnittfeld diskursanalytischer Fragestellungen wird die von Walter Jens angeregte und von Gert Ueding unterstützte Arbeit gleich mehreren aktuellen Forschungstendenzen gerecht. Sie erweitert den oft allzu engen Literaturbegriff auf publizistische Texte von Massenmedien, folgt einem erkenntniskritischen Realitätsverständnis (die Medien bilden Wirklichkeit nicht ab, sondern konstruieren diese), untersucht ihren Gegenstand in seiner kultur- und kommunikationshistorischen Verankerung und nutzt - last but not least- die Möglichkeiten der EDV zur Erschließung ihres Untersuchungsgegenstandes.

Der außergewöhnliche, auch methodische Gewinn der vorgelegten Arbeit ist im Zusammenhang mit einer inhaltsanalytischen Bibliographie für den Zeitraum vom 1. Juli 1918 bis zum 31. Dezember 1933 zu sehen, die ab Winter 1997/98 im Max Niemeyer Verlag erscheinen soll. Neben ausführlichen bibliographischen Vorüberlegungen enthält die vorliegende Untersuchung einen 170seitigen Anhang. Er bietet Ausschnitte aus dem Repertorium, dem Verfasserregister und der Dokumentation redaktioneller Bemerkungen. Mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung wurden Wege gefunden, das komplexe Material des Tageszeitungsfeuilletons und seiner Organisationsformen zu erschließen. Auf der Basis der "Tübinger Systeme von Textverarbeitungsprogrammen" (TUSTEP) wurde in Zusammenarbeit mit Paul Sappler ein eigenes Rechnerprogramm entwickelt. Es gestattet "eine angemessene Erfassung und Beschreibung aller vorkommenden Texte" und wird "allen Eigentümlichkeiten, die auftreten können", gerecht. Es ist zugleich so vereinheitlicht und formalisiert, "daß eine auf elektronische Datenverarbeitung gestützte, weitgehend automatisierte Weiterverarbeitung (von der Eingabe am Personal Computer bis zu Registererstellung und Lichtsatz auf dem Großrechner) möglich ist" (S. 75). Um die EDV analytisch sinnvoll zu nutzen, wurden die bibliographische Erfassung und die Möglichkeiten der Interpretation wechselseitig aufeinander bezogen.

Das hier praktizierte Modell kann schon jetzt als wegweisend für die detaillierte Erschließung von Tageszeitungen bezeichnet werden, besonders wenn sie wie die Frankfurter Zeitung in den zwanziger Jahren sehr unterschiedliche Teile und Ausgaben enthalten. Die chronologisch angelegte Bibliographie der einzelnen Beiträge benutzt eine Identifikationsnummer, die auf den Veröffentlichungsort (Zeitungsjahrgang, Datum, Nummer, Ausgabe und Plazierung) verweist. Über die durch die Quelle selbst gegebenen Daten hinaus (Umfang, Rubriken- und Sammeltitel, Verfasser, Titel- und Untertitel, Beifügungen oder redaktionelle Bemerkungen) werden weitere wichtige Informationen referierend ergänzt. Nützlich ist auch eine zwei- bis vierzeilige Kurzdarstellung des Beitragsinhalts, wenn der Titel wenig aussagekräftig ist. Die Texte selbst werden nicht nur über ihre Autoren und Titel zugängig gemacht. Über Namen und Schlagwörter zu Personen, Sachen und Orten sind sie über weitere Register erschließbar.

Mit dreißig Kennbuchstaben wurde die Textgattung verschlüsselt. Wegen einer bislang fehlenden Gattungstypologie mußte hier gänzliches Neuland betreten werden. Für die "hochartifizielle reflektierende Prosa" von Benjamin oder Bloch wurde eine Kategorie wie "Denkbild" gefunden. Die nicht überschaubare Zahl von Rezensionen, Abhandlungen oder "sonstigen Beiträgen" hat Todorow auch thematisch erschlossen. Für die Rezensionen wird zwischen solchen über Filme, Kunstausstellungen, Rundfunksendungen oder Opern unterschieden. Die vielen Beiträge zu unterschiedlichen Bereichen wie Architektur, Naturwissenschaft, Psychologie und Wirtschaft wurden jeweils separat eingeordnet.

Almut Todorow hat inhaltsanalytisch und gattungstypologisch wegweisende Zugänge eröffnet, welche die Vielfalt der Themen und Formen des Feuilletons erschließen. Wer sich mit der Weimarer Republik oder der Zeitungsforschung beschäftigt, darf schon heute auf ihre Bibliographie gespannt sein. Das Inhaltsverzeichnis wird neben dem Kern "unter dem Strich" auch das "Literaturblatt", Randbereiche wie die Teile "Für Hochschule und Jugend", das "Bäder Blatt", "Das Technische Blatt", "Für die Frau", "Der Sport", die "Berliner Beiträge der Frankfurter Zeitung" sowie zahlreiche Sonderbeilagen erfassen. Außer einer weitgehenden Entschlüsselung all jener Autoren, die in den Beiträgen nicht oder nur mit Chiffren genannt sind, werden dem Benutzer ausgesprochen nützliche inhaltliche und textformale Zugänge geboten. Dies zeigt, welche Erschließungsleistung dem eigentlichen Ergebnisteil der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, der mit einem Umfang von 80 Seiten auf den ersten Blick fast etwas zu schmal erscheinen will.

Im III. und letzten Abschnitt, der sich der "Rhetorik des Feuilletons" widmet, wird ein exemplarischer Vergleich der Feuilletonjahrgänge 1919 und 1929 unternommen. Er läßt die Besonderheiten des "emphatischen" Aufbruchs der Nachkriegszeit und der "Sachlichkeit" kurz vor der Wirtschaftskrise besonders deutlich werden, spart aber auch den empfindlichen Rückgang der Frankfurter Zeitung gegenüber den liberalen Blättern Berlins nicht aus. Wichtigstes Ergebnis ist der Nachweis einer thematischen und formalen Ausdifferenzierung des Feuilletons, das immer weniger auf die Darstellung aktueller Informationen beschränkt werden kann. Neben der quantitativen Zunahme von Kommentaren zur Zeit kann die Herausbildung einer publizistischen Moderne konstatiert werden. Deren Wirklichkeitsverständnis hat sich bei Autoren wie Benjamin oder Kracauer auch in entsprechenden literarischen Formen niedergeschlagen. Das Feuilleton wurde zum "Forum einer Generation von Schriftstellern" (Kap. 2.3). An die Stelle des bürgerlichen Bildungskanons sind am Ende der zwanziger Jahre zeitgenössische Essayisten getreten. Der Anteil anonymer oder mit Kürzeln gezeichneter Beiträge geht während der zwanziger Jahre von 40 auf 20 Prozent zurück; die Bedeutung individueller Verfasserschaft nimmt zu, während Kommentare und Stellungnahmen von der Redaktion 1929 wesentlich sparsamer und gezielter eingesetzt werden als zehn Jahre zuvor.

Im Kapitel 4.1. wird die These vom Feuilleton als "kollektivem Gesamtredner" eindrucksvoll belegt. In redaktionellen Bemerkungen wie "Wir glaubten, dies unseren Lesern nicht vorenthalten zu sollen" tritt die Medieninstanz den Lesern direkt gegenüber, was Todorow als "Exordialrhetorik" bezeichnet. Auswahl und Redigierung der Beiträge ordnen diese in die redaktionelle Linie ein. Darüber hinaus werden sie mit zusätzlichen Informationen oder Kommentaren versehen. Die Rezeption wird so gezielt gesteuert. Die Feuilletonredaktion wirkt sinnstiftend und trägt wesentlich zur Konstruktion der Medienrealität bei. Die publizistische Einheit und das Kollektivsubjekt Feuilleton entwickelt sich im Spannungsfeld zwischen Autoren, der Redaktion und der Leserschaft.

Obwohl sich die Frankfurter Zeitung an eine bildungsbewußte und sehr diskussionswillige Klientel wandte, täuschten sich die Mitarbeiter nicht über die Unterhaltungsbedürfnisse ihrer Käufer hinweg. Für "pragmatisch, possierlich, pflegeleicht" hielt Ernst Bloch die Leser des "Durchgeblätterten". Nur Leute, die am Tag nichts getan haben, seien abends geistreich. Was heute als Höhepunkt der Publizistik der Moderne gilt, wurde von den Zeitgenossen am Ende der zwanziger Jahre in wachsendem Maße abgelehnt. Mit den Essays Walter Benjamins oder Alfred Döblins Roman Berlin. Alexanderplatz, der in der Frankfurter Zeitung abgedruckt wurde, waren die Abonnenten, unter denen die Geschäftsleute und Angestellte dominierten, sowohl literarisch als auch weltanschaulich überfordert.

Die als 8. Band der "Rhetorik-Forschungen" des Max Niemeyer Verlages erschienene Habilitationsschrift weiß auch die drucktechnische Präsentation und Aufmachung der Zeitung als rhetorische Elemente darzustellen. Über das Feuilleton berichtet sie viele interessante Details, stellt aber auch Material für eine Geschichte der Publizistik bereit, welche die Personal- und Werkverflechtungen literaturhistorisch bedeutsamer Autoren berücksichtigt. Als "Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung" trägt die vorliegende Arbeit Wegweisendes zur systematischen Untersuchung des Tageszeitungsfeuilletons bei. Das in ihr vorgestellte Modell bibliographischer Dokumentation und inhaltsanalytischer Erschließung empfiehlt sich weiteren Projekten zur Adaption.

Andreas Herzog